Bericht von der STSV Wertungsrichter-Weiterbildung
Als am Wochenende des 26./27. Januar 2013 rund 20 Wertungsrichter gleichzeitig je ein Latein und Standard-Turnier in der Dance Hall in Zürich bewerteten, ging es für einmal nicht um einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde, sondern schlicht und einfach um den Praxisteil der Wertungsrichter Lizenzerhaltungsschulung 2013/14. Mit diesem neuen Programmpunkt hat der STSV auf die Kritik früherer Weiterbildungskurse reagiert. Doch alles der Reihe nach …..
Als Referent wurde für den diesjährigen WK Joachim Krause, Landesjugendtrainer Baden-Württemberg, verpflichtet. Assistiert wurde er vom 10-Tanz-Paar Viktoria Aidel / Johann Deter.
Gemeinsame Basis erarbeiten
Vor dem Probewerten mit anschliessender Diskussion galt es erstmals, im Theorieteil eine gemeinsame Basis zu erarbeiten. Als Einstieg dazu eignete sich sehr gut die bekannte Uebersicht über die 12 Wertungsgebiete (siehe Wertungsrichterreglement Seite 7 Kapitel 4.4). Doch obwohl diese Beschreibung der Wertungsgebiete seit 15 Jahren in unveränderter Form existiert, zeigte die rege Diskussion einmal mehr auf, dass zwar die einzelnen Punkte als solche den Wertungsrichtern klar sind, dass aber die im Reglement vorgeschriebene Umsetzung, so logisch sie auch sein mag, in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht praktikabel ist. Statt die einzelnen Gebiete isoliert Punkt für Punkt so weit abzuarbeiten, bis eine Differenzierung der Paare möglich ist, gehen die meisten Wertungsrichter von einer gewichteten, gesamtheitlichen Betrachtung der Paare aus. Konkret heisst das, dass man das Gesamtbild eines Paares beurteilt, wobei man die am Anfang liegenden Punkte (1.1, 1.2, ….) stärker gewichtet als die weiter hinten liegenden Punkte (…, 4.2, 4.3). Joachim Krause ging sogar noch einen Schritt weiter indem er die Reihenfolge der Wertungsgebiete in Frage stellte. Nach seiner Ansicht wird insbesondere der erst an neunter Stelle liegende Punkt 3.3 (Bewegungsablauf eines Bewegungselementes bzw. die Technik) stark unterbewertet. Nach seiner Ansicht müsste die Reihenfolge wie folgt lauten: 1.1, 1.2, 3.3, 2.1, 2.2, 2.3, 3.2, 4.1, 4.2, 3.1, 1.3, 4.3. Für unterklassige Turniere genügen dabei meist die ersten 4 Punkte, während man mit steigendem Niveau auch die weiteren Punkte in Betracht ziehen muss. Wie gesagt ist dies eine rein persönliche Ansicht des Kursleiters und keineswegs als nun allgemein gültige neue Regel zu verstehen. Aus meiner Sicht wäre es aber an der Zeit, dass die Verbände das Thema „Praktische Anwendung der Wertungsgebiete“ aufgreifen und überarbeiten sollten. Zwar hat die WDSF in der Zwischenzeit ein neues Wertungssystem vorgestellt, dieses ist jedoch nur für Solotanz-Finale geeignet.
Wann ist ein Paar im Takt?
Mit der Frage „Wann ist ein Paar im Takt“ eröffnete Joachim Krause das Thema Musik. Allein mit der Beantwortung dieser Frage könnte man einen ganzen Lehrgang füllen. Während sich Trainer und Paare intensiv mit diesem Thema befassen müssen, so sind für die Wertungsrichter einfache Lösungen gefragt, weil an einem Turnier schlicht die Zeit für tiefgründige Analysen fehlt: Wenn zwischen dem was das Ohr hört und das Auge sieht eine harmonische Beziehung besteht, dann ist das Thema Musik schon recht gut erfüllt, so die Empfehlung des Kursleiters. Dass aber auch mal die Musik Schuld sein kann, wenn plötzlich alle Paare ausser Takt liegen, demonstrierte Joachim Krause mit einigen bekannten Latein-Titeln, deren Takt sich im Verlauf des Stückes ändert. Dass die DJ‘s den Fokus vermehrt auf charakteristische, taktgetreue Musik und nicht primär auf die Popularität der Stücke legen sollten, ist eine immer wieder geäusserte Kritik.
Interessant war auch das Thema der rhythmischen Aufteilung des Jive Chasses. Ist nun die Teilung ¾ ¼ 1 gemäss Technikbuch von Walter Laird oder die triolische Swing-Teilung 2/3 1/3 1 korrekt? Die Mehrheit der Teilnehmer bekannte sich zur zweiten Variante und folgte damit der Meinung des Referenten. Sehr schön visualisiert wurden die beiden Varianten durch das Demonstrationspaar Viktoria und Johann, die das Jive Chasse einmal nach der Zählweise „loook a bout“ (¾ ¼ 1) und dann auf „look ab out“ (2/3 1/3 1) zeigten. Dass man die zweite Variante sehr gut mit Wiener Walzer Musik üben kann, konnten die Kursteilnehmer gleich selbst auf dem Parkett testen.
Dass Rocks, Chasses und Flicks sehr charakteristisch für den Jive sind, wurde schon oft an solchen Lehrgängen erwähnt, nur wissen das anscheinend die Paare und Trainer noch immer nicht. Denn oft sieht man nur noch Gimmicks und Tricks, während die für die Wertungsrichter gut lesbaren und einfach bewertbaren Basic Elemente nahezu ausgestorben sind.
Weit weniger „einvernehmlich“ verlief die Diskussion im Bereich Technik, Bewegungsablauf und Bewegungsumfang am Beispiel einiger Jive Aktionen. Joachim Krause führte uns mit dem Demopaar klassische Varianten gemäss Technikbuch sowie trendigere Versionen vor Augen. Tanzt man z.B. den Rock-Step Rumba-Like mit gestreckten Beinen, können maximale Body-Actions und durch die betonten Leg-Lines zusätzliche optische Effekte erzeugt werden. Die Kernfrage bestand nun darin, was besser zu bewerten sei und letztendlich welchen Stellenwert Sportlichkeit, Quantität, Speed, Dynamik, Effekte, Trends, … bei der Beurteilung der Paare einnehmen sollten.
Nach Ansicht von Joachim Krause haben all diese Punkte im modernen Turniertanz ihre Berechtigung und sollten dementsprechend auch positiv bewertet werden, vorausgesetzt natürlich, dass sie korrekt eingesetzt bzw. umgesetzt werden und man sich nicht von reinen Bluffern blenden lässt.
Kunst oder Sport?
Hohe Sportlichkeit ja, aber man sollte nur das Resultat (das heisst die Kunst) und nicht den reinen Sport sehen (Bsp. Ballett). Quantität im Sinne des Bewegungsumfanges (und nicht in der Anzahl Figuren) ja, aber nicht auf Kosten der Musikalität und der Bewegungsqualität. Speed und Dynamic ja, aber immer kontrolliert, im Einklang mit der Musik und im Kontrast zu ruhigen Aktionen (Light and Shade). Highlights mit Effekten ja, aber nie aufdringlich d.h. in einem gesunden Mass und stimmig zur gesamten Choreographie. Trends ja, aber korrekt und stufengerecht umgesetzt, denn letztendlich tragen Trends und entsprechend experimentierfreudige Trainer und Paare auch zur Weiterentwicklung des Tanzsportes bei.
Aus den Reaktionen und Voten der Teilnehmer konnte man schliessen, dass in der Schweiz doch eine konservativere Haltung gegenüber diesen Themen besteht. Ein Blick auf grosse internationale Turniere zeigt allerdings, dass besonders im Amateurbereich die Sichtweise des Referenten durchaus der Realität entspricht. Mit nur künstlerisch schönem, klassischem, charakteristisch der Geschichte der Tänze verpflichtetem, risikolosem, stilistisch und technisch korrektem Tanzen wird man es als Paar besonders in sehr grossen Feldern (Bsp. GOC Vorrunden) schwer haben. Da stellt sich natürlich die Grundsatzfrage, ob sich die Wertungsrichter der Entwicklung des Tanzsportes anpassen müssen oder ob die Wertungsrichter die Entwicklung des Tanzsportes beeinflussen sollen. Für die kleine im internationalen Vergleich doch eher unbedeutende Schweizer Tanzszene dürfte die Antwort wohl klar sein.
Auf der einen Seite sind solch intensive Diskussionen sehr wertvoll, anregend und lehrreich, auf der andern Seite haben sie den zeitlichen Rahmen vollkommen gesprengt und dazu geführt, dass vom vorgesehenen Stoff nur ein kleiner Teil behandelt werden konnte. So wurde das eigentliche Kern-Thema des Lehrganges „Ladies – First“ nicht einmal Ansatzweise behandelt. Für zukünftige Ausbildungen sollte man sich daher überlegen, eine klare Aufteilung einzuführen z.B. mit Blöcken von je 45 Minuten Frontalunterricht und anschliessend 15 Minuten offener Diskussion.
Spätestens beim abschliessenden Probewerten der Jugend Latein Trophy kamen die Wertungsrichter wieder auf dem Boden der Realität an. Da die Leistungen der Paare mit wenigen Ausnahmen selten über mehr als 4 – 5 Takte auf einem konstanten Level lagen, wurde das Werten zu einer echten Herausforderung. Das zeigte sich dann auch in der anschliessenden Diskussion und in den Wertungen. Die Paare welche sich konstant von der Masse abhoben, sei es nun leistungsmässig nach oben oder unten, erhielten auch recht einheitliche Bewertungen. Bei allen andern Paaren war die Streuung entsprechend grösser. Von den anwesenden Wertungsrichtern wurden übrigens sieben ausgelost, deren Wertung offiziell gezählt wurde.
Statische/dynamische Balance und Bewegungsablauf
Am Sonntag war Standard angesagt. Am Beispiel des EW wurden besonders die WR-Gebiete Balancen und Bewegungsablauf behandelt. Viktoria und Johann demonstrierten, wie wichtig ein sauberes Setup ist, bei welchem zuerst der Tänzer und die Tänzerin selbst und anschliessend das Paar die korrekte statische Balance herstellt. Dies ist auch die Grundvoraussetzung dafür, dass ein Paar innerhalb der Bewegung saubere dynamische Balancen zeigen kann. Obwohl das alles Punkte sind, auf die die Wertungsrichter achten ist es erstaunlich, wie viele Paare ohne Setup im Körper anscheinend völlig planlos „drauflos“ tanzen.
Ein weiterer Block drehte sich um die Frage, wer im Paar den aktiven Part und wer den passiven Part hat. Allen bekannt ist wohl die Variante, bei welcher der vorwärts gehende Partner die aktive Rolle im Sinne der Bewegung einnimmt und den Partner quasi „anschiebt“. Joachim Krause nannte dies die Variante „Tuchfühlung“. Im krassen Gegensatz dazu steht die „Zugvariante“, bei welcher der rückwärts tanzende Partner die bewegungsmässig aktivere Rolle einnimmt. Dies gibt dem Paar deutlich grössere Freiheiten woraus wiederum ein grösserer Bewegungsumfang resultiert. Besonders für die in der Regel gegenüber dem Herren kleinere Dame ist diese Variante deutlich komfortabler. Dies konnten die Teilnehmer am Beispiel eines EW Natural Turns auch gleich selbst ausprobieren. Nachteilig bei dieser Methode ist, dass ein Paar weniger kompakt wirkt und auch mal kleine Lücken zwischen dem Paar entstehen können. Bei beiden Varianten bleibt die Führung übrigens jederzeit beim Herrn. Denn Führen hat nichts mit der aktiven oder passiven Ausführung der Bewegung zu tun, sondern primär mit dem Anzeigen von Zeitpunkt, Richtung, Dauer und Umfang einer Aktion.
Joachim Krause vertrat die Ansicht, die modernere, sportlichere Variante nicht negativ zu bewerten, selbst wenn dabei ein Paar nicht jederzeit vollkommen geschlossen tanzt. Und damit war die Diskussion wieder eröffnet, wohin sich der Tanzsport entwickeln soll. Wie schon am Samstag im Latein zeigte sich auch in der Diskussion am Sonntag, dass die Teilnehmer den ihnen unbekannten, neuen Entwicklungen und Trends eher negativ gegenüber standen. An dieser Stelle konnte der Referent nur einmal mehr an die Teilnehmer appellieren, sich gegenüber neuen Entwicklungen zu öffnen und auch das Toleranzspektrum zu erweitern, d.h. nicht nur das was man kennt und selbst getanzt hat als gut zu akzeptieren. Nebenbei bemerkt ist die „Zugmethode“ auch gar nicht mehr so neu. So wurden wir in unserer Tanzkarriere bereits vor 25 (!) Jahren damit konfrontiert und das in England, das damals als Land des klassischen, konservativen Tanzstils galt.
Alte Weisheiten immer wieder kritisch überprüfen
Dass man auch als Wertungsrichter alte Weisheiten immer wieder kritisch überprüfen und wenn nötig über Bord werfen sollte, zeigte sich am Beispiel der Frage, wer bei einer Drehung den weiteren Weg hat. Spontan kam die Antwort „immer der vorwärts tanzende weil er sich auf dem Aussenkreis bewegt“. Die genauere Analyse zeigte hingegen, dass diese Aussage nur für die Rechtsdrehung korrekt ist, denn am Anfang der Linksdrehung hat der rückwärts tanzende Partner auf Grund der versetzten Körperposition den weiteren Weg. Ein Paar welches die Rotationsbewegungen richtig umsetzt, sieht schon auf den ersten Blick besser aus. Und darauf kommt es letztendlich an, dass ein Paar für den Wertungsrichter in jedem Augenblick klar lesbar und damit gut bewertbar ist.
Warum sich Joachim Krause nach der Mittagspause so ausführlich dem DTV-Verbandsthema 2013 „Raum“ widmete statt wie ausgeschrieben dem DTV-Thema 2012 „Ladies First“, war für mich nicht nachvollziehbar. Für Paare und Trainer lieferte das Thema Raum zwar einige wertvolle Hinweise, aus Sicht der Wertungsrichters war das Thema allerdings zu wenig greifbar. Schade, die dafür aufgewendete Zeit hätte man besser nutzen können.
Slow Fox Timing
Spannend wurde es hingegen nochmals gegen Ende des Kurses beim Thema Slow Fox Timing. Wie der Bewegungsablauf zeitlich zu den Schlägen 1 und 2 getimed sein sollte, wird seit Jahrzehnten heftig diskutiert. Der Kursleiter empfahl daher, dass sich die Wertungsrichter bei der Beurteilung des Taktes ausschliesslich auf die 3 konzentrieren sollten. Denn im Gegensatz zum Slow lässt der erste Quick keinen Interpretationsspielraum zu. Ein wertvoller Tipp, der beim abschliessenden Probewerten sogleich bei einigen Wertungsrichtern zu einem positiven Aha-Effekt führte.
Leider war das Turnier am Sonntag zahlenmässig schwach besetzt. Doch auch mit nur 5 Paaren in der Vorrunde und 4 Paaren im Final hatten die Wertungsrichter keine leichte Aufgabe. Wie schon am Tag zuvor im Latein, waren auch im Standard besonders die nicht konstanten Leistungen nur schwer einzureihen. Hinzu kam, dass man je nach Gewichtung der einzelnen Wertungsgebiete zu unterschiedlichen Rangfolgen kommen konnte. Dementsprechend weit gestreut lagen teilweise auch die Meinungen und Kommentare bei der Turnierbesprechung. Dies ist jedoch nicht weiter tragisch, denn es war nie das Ziel des Lehrganges, einen Meinungskonsens der Wertungsrichter zu erreichen.
„Absolut richtige Wertungen wird es nie geben“
Wie bei allem, das nicht messbar ist, wird es auch im Tanzsport (oder sollte es Tanzkunst heissen ?) immer unterschiedliche Ansichten und Meinungen geben. Und auch die absolut „richtigen“ Wertungen wird es nie geben. Solange sich aber die Wertungsrichter den ethischen Grundsätzen und dem Wertungsrichterreglementes verpflichtet fühlen und ihre Aufgabe am Flächenrand entsprechend wahrnehmen, werden die Paare die Wertungen auch akzeptieren. Abschliessend noch einige generelle Punkte, auf die Joachim Krause im Laufe des Kurses immer wieder hingewiesen hat:
- Ein WR muss hinter seinen fachlich fundierten Wertungen stehen können, seinen Standpunkt muss er aber dennoch immer wieder kritisch hinterfragen
- Ein WR muss offen sein gegenüber Neuem und seinen Horizont laufend erweitern auch über das hinaus, was man selbst einmal getanzt hat
- Ein WR soll mit einer positiven Sichtweise die Paare beurteilen und nicht primär nur nach Fehlern suchen
- Ein WR soll sich nicht von Bluffern blenden lassen
- Werten soll man immer differenziert Runde für Runde und Tanz für Tanz
- Ein WR darf sich nicht beeinflussen lassen von Vorstellung, Kleidung, Grössenunterschiede im Paar, körperliche Voraussetzungen, Rangliste, Clubzugehörigkeit, frühere Resultate, Leistung vorangegangener Runden, äussere Einflüsse, ….
- Ein WR muss sich jederzeit seiner grossen Verantwortung bewusst sein
Bericht: Daniel Helbling
Bilder: Simon Bruderer