Tanz im Altersheim

Alle haben sich fein gemacht: Die Damen tragen Jupe und Bluse, die Herren Bundfaltenhose.

Alle haben sich fein gemacht: Die Damen tragen Jupe und Bluse, die Herren Bundfaltenhose.

 

Wenn im Zürcher Pflegezentrum Käferberg der Tanznachmittag steigt, kommen alle. Auch wenn die Beine nicht mehr so richtig mitmachen wollen.

 

Ein Bericht vom MIGROS MAGAZIN

 

Samstag, 14.30 Uhr, und auf den Tischen im Bistretto stehen neben den Fläschchen mit Wasser auch Zweierli Weisswein. Um die Tanzfläche sitzen ältere Damen hinter ihrem Rollator oder im Rollstuhl. Die meisten älteren Herren gesellen sich um die Tische. «Marina, no, no, no», schmettert Franco Palattella (69) und klimpert auf seinem Keyboard.

Die Tanzfläche ist voll. Zwei Damen – eine im türkisfarbenen und eine im pinkfarbenen Pulli – halten sich an den Händen und tappen im Rhythmus. Ein Paar, beide kurzhaarig und mit randloser Brille, reiht routiniert sehr lange und sehr kurze Schritte aus ihren Foxtrott-Kursen aneinander. Eine alte Frau mit sorgfältig aufgesteckten Haaren kurvt im Rollstuhl lächelnd übers Parkett, ihr farbenfrohes Foulard weht im Fahrtwind.

 

Fritz Egger und Ursula Denzler tanzen seit 30 Jahren zusammen. Besonders gerne, wenn Franco Palattella aufspielt.

Fritz Egger und Ursula Denzler tanzen seit 30 Jahren zusammen. Besonders gerne, wenn Franco Palattella aufspielt.

 

Alle zwei Wochen finden im Pflegezentrum Käferberg Musik- oder Tanzanlässe statt. Von Schlager über Canzoni – das Repertoire ist breit. So möchte man die Welt zu den Bewohnerinnen und Bewohnern bringen und sie bewegen, körperlich und emotional.

Viele Augenpaare folgen dem Mann mit schwarzer Hose, weissem Hemd und bordeauxroter Fliege: Edi Heller (59) ist ein sogenannter Taxitänzer. Er bittet Dame um Dame um einen Tanz. Nähert er sich beim Ausklang eines Liedes einer neuen Partnerin, schauen ihm alle zu. Niemand sagt Nein, wenn Edi zum Tanz bittet. Auch wenn es einigen sichtlich Mühe bereitet, stemmen sie sich für einen Tanz mit ihm aus dem Stuhl hoch und lassen den Rollator stehen.

Als «Capri, c’est fini» ausklingt, tänzelt die 90-jährige Margrit Beeler beschwingt zurück zu ihrem Platz. Sie sei ein Tanzfüdli und habe schon mit vielen guten Tänzern geschunkelt und geschwoft, sagt sie. «Edi ist einer der Besten.» Wird sie von Edi übers Parkett geführt, fühlt sie sich «wie damals». Vergessen sind die Jahre, die sie in den Knochen spürt.

 

Edi Heller (59) ist Taxitänzer und wirbelt die Damen (hier Johanna Gujer) gekonnt übers Parkett.

Edi Heller (59) ist Taxitänzer und wirbelt die Damen (hier Johanna Gujer) gekonnt übers Parkett.

 

Edi Heller tanzt seit 40 Jahren, einige Jahre war er Turniertänzer. Die Freude der Leute an Musik und Rhythmus ziehe ihn immer wieder ins Pflegezentrum Käferberg. «Diese Generation hat das Tanzen im Blut», schwärmt er. Bei einem Walzer oder einem Tango würden die Damen regelrecht schweben. Manchmal wird er auch ein bisschen angeflirtet. So raunt ihm eine Dame zu: «Ich war heute nur für Sie beim Coiffeur …» Ganz der Gentleman sagt er dazu nur: «Ich bin 100 Prozent da beim Tanz.»

Franco Palattella greift zum Mikrofon und sagt: «Jetzt ein bitzeli schnell» – und zack ist Edi bei der nächsten. Franco trällert «Ich will keine Schokolade, ich will eine Frau!» Sein blaues Satinhemd mit den Diamantknöpfen zeigt erste Schweissspuren. Wer jetzt noch sitzt, wippt mit Kopf, Füssen oder Händen mit.

 

Frau Burkhart steht unter Strom

Vreni Burkhart (86) schnippt mit den Fingern und dreht sich im Rollstuhl im Kreis. Vor einigen Jahren zog sie mit ihrem Mann ins Pflegezentrum Käferberg. Als er nach 62 glücklichen Ehejahren verstarb, begann sie zu tanzen. «Zum Glück bleibt uns noch das hier», sagt sie und strahlt.

 

Vreni Burkhart (86): «Tanzen war etwas für die Besseren, die Tanzschule kostete. War ich doch einmal an einem Fest, wartete ich darauf, zum Tanz aufgefordert zu werden. Da schwang immer die Angst mit: Kann der tanzen? Ich erinnere mich, wie meine Brüder im Wohnzimmer übten, um eine gute Figur zu machen.»

Vreni Burkhart (86): «Tanzen war etwas für die Besseren, die Tanzschule kostete. War ich doch einmal an einem Fest, wartete ich darauf, zum Tanz aufgefordert zu werden. Da schwang immer die Angst mit: Kann der tanzen? Ich erinnere mich, wie meine Brüder im Wohnzimmer übten, um eine gute Figur zu machen.»

 

Johanna Gujer (95) ist ebenfalls auf vier Räder angewiesen, um mit der Musik mitzugehen. Für sie muss richtige Tanzmusik temporeich sein, wie ihr Lieblingslied «Der Knopf an deiner Bluse». Sie bittet Sebastian Marinkovic (39), Mitarbeiter im Zentrum, sie doch etwas schneller herumzuwirbeln. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Bewohnerinnen und Bewohner zu animieren. Er erlebt die Tanznachmittage immer als eine rundum schöne Sache: «Die Musik weckt Erinnerungen und Fähigkeiten; die Leute kommen sich näher.» Die Vorfreude auf die Anlässe sei jeweils riesig.

Auch bei Angela Ferrari (67), die aufgrund Multipler Sklerose schon seit 15 Jahren im Käferberg lebt. Manfred Hoffman (67), ihr Lebenspartner, besucht sie täglich, nun, da er pensioniert ist. Während er seine Liebste mit Chips füttert, sagt er «wir haben immer den Plausch hier». Auch Angela Ferraris Stiefsohn sitzt mit ihnen am langen Tisch. Franco Palattella singt für ihn zum Geburtstag «O sole mio».

Nicht allen ist nach Tanzen zumute. Helena Frauenknecht (94) und Ernestine Fischer (79) fühlen sich wohl am Rande des Geschehens und wippen mit zu «Ein Stern, der deinen Namen trägt». Als Älteste von fünf Geschwistern brachte Helena Frauenknecht allen das Tanzen bei, erzählt sie. Auch wenn sie jetzt nur noch zuschauen mag, findet sie oft: «Das könnte ich auch.» Sie denkt an ihren Mann, der lieber zuschaute als tanzte, wie sie an der Fasnacht mit ihrem Auftritt einen Preis gewann. Kennengelernt hatten sie sich am Bodensee, wo sie als erste Berufsfischerin arbeitete.

 

Sie wollen alle wirbeln

Für Ernestine Fischer war in jungen Jahren Schlafen Nebensache. Lieber durchtanzte sie die Nächte. Walzer und Country mag sie noch heute am liebsten. Wird sie zum Tanzen aufgefordert, lehnt sie ab, weil ihre Beine sie nicht mehr tragen. «Die Männer glauben mir das nicht», sagt sie und lächelt. Den knallig roten Lippenstift trägt sie nicht nur für spezielle Anlässe auf, sondern jeden Tag.

Die Tanzanlässe im Pflegezentrum Käferberg ziehen auch Auswärtige an. Wie Ursula Denzler (81) und Fritz Egger (86). Sie lernten sich kennen, als ihre Kinder verbandelt waren, vor gut 30 Jahren. Seither tanzen sie zusammen. Sie trägt ein schwarzes Kleid und goldige Cinderella-Schuhe, er einen hellen Anzug. Ob Boogie-Woogie, Jive oder Discofox: Sie wirbeln im Takt. Hie und da braucht sie eine kurze Pause, um sich Luft zuzufächern. Er könnte ewig durchtanzen: Als ehemaliger Kunstturner schafft er noch heute den Spagat.

 

Franco Palattella (69) singt Schlager und Canzoni und steckt das Publikum an mit seiner Euphorie.

Franco Palattella (69) singt Schlager und Canzoni und steckt das Publikum an mit seiner Euphorie.

 

Franco Palattella spielt wie immer länger, als er gebucht ist. Auf «Besame mucho» und «Azzurro» kann er nun mal nicht verzichten. Auch wenn die meisten Gäste mittlerweile etwas müde sind, bleiben alle bis zum Schluss um 17 Uhr. «Der hört nur auf, wenn man den Stecker rauszieht», sagt Karl Fridolin Maier. Er ist mit seinen 100 Jahren der Älteste im Käferberg.

 

 

Herzlichen Dank dem MIGROS MAGAZIN !

 

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